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Visuelle Poesie oder Von der Fotografie zur Malerei
Dem Kenner der Kunst von Lars Ulrich Schnackenberg ist das Kunstwollen des Künstlers kein stilistisch Gebundenes, sondern eine permanente Suche nach den visuellen Möglichkeiten in unserer Welt zu leben. Schnackenberg stellt prinzipiell existentielle Fragen, die er mit realistischen Mitteln zu beantworten sucht. Bei Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, heißt es: „Wo es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben.“
Schnackenberg ist sich dieser Fragestellung und der damit verbundenen philosophischen Aussage sehr bewusst. Er weiß, dass die direkte Abbildung der Wirklichkeit durch die Fotografie nicht die Antwort auf unsere Lebensfragen sein kann. Zwar benutzt er die Fotografie als Medium, doch kombiniert er verschiedene Bilder in einem. Diese werden dann mit der Technik der Enkaustik malerisch überarbeitet, so dass Emulsionen auf den Bildoberflächen entstehen, auf denen der Betrachter vieles wiedererkennen kann, um zugleich selbst permanent Fragen an das Bild zu stellen.
Denn der Künstler integriert den Betrachter bei seinen Fragestellungen, ganz im Sinne von Umberto Ecos opera aperta, dem offenen Kunstwerk, das sich jedem Betrachter anders erschließt, da er unterschiedliche, sehr persönliche Konnotationen an das Bild heranträgt. Schnackenberg spielt mit dieser Offenheit des Bildes. Jedes seiner Werke entzieht sich der heutigen „Vereindeutigung“ der Welt (Thomas Bauer). Denn Kunst bedeutet Reichtum und nicht Verarmung, bedeutet Freiheit und nicht nur die visuelle Bestätigung der optischen Richtigkeit einer soziokulturellen These.
Das Denken in Räumen lernte der junge Schnackenberg als er in Berlin Bildhauerei bei dem abstrakten Künstler Bernhard Heiliger studierte. Diese dritte Dimension entwuchs der räumlichen Identität und entwickelte sich zu einer Welt großer Gedankenräume. Dazu führte auch die Hinwendung zur Malerei, vielleicht auch bedingt durch die Professur an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter, bis hin zu dem neuen Medium der Fotografie, durch eine spezielle Bearbeitung, die die Fotografie wieder in die Malerei zurückführt. Ein spannender Prozess in der Geschichte der Malerei und Fotografie.
Summertime – Where have all the flowers gone? (Kunstraum Bad Honnef) im Jahr 2023 war bis dato die letzte Ausstellung in einer Reihe, die bereits 1996 mit einer Fotoinstallation in der Bonner Auermühle begann. Mit Diaprojektionen in die verblendeten Fensterlaibungen der Lager und Arbeitshalle untersuchte der Künstler dort die Bildgeschichten eines Betonbodens. Es ging um die Verortung nicht geschriebener Geschichte als subjektives Erlebnisangebot im Lichtbildformat. Es folgten 1997 Kleine Geschichten, virtuelle Geschichten[SJ1] (Galerie ACHT P&Q, Bonn), 2004 Momente (Galerie ACHT P, Bonn), 2013 Wisse das Bild (Kunstverein Linz am Rhein), 2020 Wir (Kunstraum Bad Honnef), 2022 ?!TRUTH!? (Kunstverein Linz am Rhein) und 2023 WIR und WIR (Kunstverein Aichach).
Schon die Titel der Ausstellungen verbinden das Kunstwerk mit einer sprachlichen Weltauffassung, die durchaus philosophischen Ursprungs sein könnte, von Heidegger über Sartre etc. Sie ergänzen die bildnerische Sprache auf ihrer Suche nach den Lebenswirkungen in jeweils bestimmten Denkrichtungen, wie sie zuvor noch nie in der Malerei zu sehen waren. Denn die Bilder bleiben Bilder, die im veränderten Abbild keine schriftlichen Unterlagen mehr brauchen.
Schnackenberg liebt das Sinnliche, die Sinnlichkeit auf der Suche nach dem Leben. Er ist kein Minimalist, kein abstrakter Maler, kein Konzeptkünstler, sondern ein sich selbst verantwortender Suchender, um in Bildern die neuen Antworten zu finden.
Später erkannte Schnackenberg, bedingt durch das Entstehen des sogenannten second life, die Wahrnehmungs- und Interpretationsunterschiede der jeweiligen Betrachter. Diese neuen Fragestellungen nach der Wahrnehmung als Absolutum führten zu den erzählerischen kleinen Geschichten und virtuellen Geschichten in der Ausstellung WIR und WIR.
Der Schwerpunkt der Arbeiten sucht das Selbstverständnis des Humanum in der Kunst – eine Suche ohne Ende – in dem Bewusstsein, dass Bilder als ideales Konstrukt entstehen oder aus einem wichtigen oder zufälligen Anlass, der als Vorgabe in die Malerei überführt wird.
Die Farbgebungen der dargestellten Inhalte bleiben frei. Schnackenberg folgt keinem verbindlichen Manifest irgendeines Realismus in der darstellenden Kunst. Denn die Freiheit der Gedanken garantiert jedem Bild, jedem Bildzyklus auch die Freiheit in seiner Ablesbarkeit. Die Bilder werden zu Dokumenten, die scheinbare Orte des Erlebens und Situationen des Erlebens widerspiegeln.
Die Spannung ist aber nicht eine rein Inhaltliche. Unser Blick auf die Fotografie ist seit vielen Jahrzehnten durch die Realismusfragen bestimmt. Deshalb führt die Überarbeitung dieser – an Rechnern bis zum Druckvorgang erstellten – Arbeiten zu einer Erweiterung der visuellen Optionen durch die Überführung in die Malerei durch Enkaustik: Ein künstlerischer Entscheidungsprozess und wieder auch die Betonung des Handwerklichen im Kunstwerk.
Der Künstler selbst verweist auch immer wieder auf sein Alter, also seine vielen Jahrzehnte der Erfahrungen als Künstler und seine Vorliebe für La vita come commedia dell‘ arte.
Schon dieser Verweis auf Dante zeigt auf, dass in jedem Werk die Jahrhunderte zusammenfließen, aber auch wie stark jedes Werk zugleich in die Zukunft ausgerichtet ist. Schnackenberg zeigt uns keine Historienmalerei, sondern einen selbstständigen autonomen Kosmos der freien Kunst, der von den Werken bestimmt wird und durch sie den Weg in die Zukunft antreten kann.
So erkennen die Betrachter Gedankenwelten aus ihrem eigenen Leben, sehen sie Formulierungen über ihre eigene Existenz, weil Schnackenberg existentielle Lebensmomente aufzeigt wie Eindrücke, Erinnerungen, Gefühle, Ahnungen, aber auch – um Überlegungen von Martin Seidel zu folgen – Privatheit und Öffentlichkeit. Deshalb benutzt Schnackenberg nicht nur die eigenen Fotografien, sondern er sucht sich die Vorlagen in allen Bereichen zusammen, damit sie nach der Sicht eines Künstlers miteinander im Kunstwerk verschmelzen können.
Im Zusammenhang mit den Bildern sprechen wir von instabilen Gleichgewichten, Momenten, virtueller Geschichte vom Wisse das Bild oder von der Kunst als Aufforderung. Heimat und Tod, Vergänglichkeit, Entsetzen, Wehmut und Sehnsucht, mitunter auch Gelächter stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Beziehungen zwischen Frau und Mann werden ebenso aufgezeigt wie der Bezug zur Natur, der Bergwelt von Berchtesgaden, wo der Künstler aufgewachsen ist. Die visuelle Poesie hat sich neu erfunden.
Professor Dr. Dieter Ronte ist Direktor des Kunstmuseums Bonn
Bonn, Juli 2024
Life is an open work…
Der „Schnackenberg Kosmos“ ist bevölkert von aktuellen Ereignissen, historischen Komponenten, persönlichen Erfahrungen und immer wieder dem suchenden Blick auf eine Welt aus Objekten, Symbolen und Worten, die des Künstlers umherwandernder Geist selektiv zusammenträgt und zu immer neuen Schöpfungen zusammenfügt.
Seit vielen Jahren setzt sich Lars Ulrich Schnackenberg in seinen speziellen Werkreihen mit dem Menschen und seiner Einbindung in die Welt und in die Gesellschaft auseinander. Er bedient sich dabei einer Art von Malerei-Fotografie, die er als besonderes künstlerisches Mittel entwickelt hat, das es ihm ermöglicht, Bilder in Überblendungen, Überarbeitungen mit den unterschiedlichsten Techniken zu einer künstlerisch malerischen Aussage zu verändern. So entstehen Bildcollagen, die Situationen des Lebens reflektieren. Wir erleben Lars Ulrich Schnackenberg als einen ganz alltagsorientierten politisch denkenden Künstler, der sich zu unterschiedlichen Ereignissen der Weltgeschichte in neuerer Zeit und als Themen der Weltgeschichte äußert. Seine Bildkompositionen zeigen uns eine Welt, wie sie uns täglich vor Augen tritt, in der alles mit allem vernetzt ist, alles von allem überlagert wird und sich eine Vielfalt und eine Vielfarbigkeit entwickelt, die manchmal den „Durchblick“ erschwert.
Lars Ulrich Schnackenberg hat in einem sehr konsequent verfolgten künstlerischen Weg die Existenz des Menschen mit experimentellen fotografischen und zeichnerischen Werkserien ausgeleuchtet und in überraschenden Bildern festgehalten. In unserer visuellen, digital geprägten Kultur, die ja oft als eine Bild-Kultur beschrieben wird, lohnt es, sich mit seinen Werken zu konfrontieren. Sie gebärden sich so expressiv wie fragil, meist irritierend, und das nicht nur aufgrund ihrer farbintensiven Ästhetik, sondern auch in Bezug auf ihre motivischen Setzungen.
Seine künstlerische Gattung, in der er arbeitet, ist dabei schwer zu definieren, denn er bedient sich der Fotografie als einem stilistischen Mittel, ohne auf den Bereich des Fotografen festgelegt zu sein. Streng genommen ist er Zeichner und Maler, bei dem das Ergebnis der Werkreihen, die er in Angriff nimmt, Bildobjekte – gebaute Bildskulpturen - sind, die den Moment, die Zeit und den Menschen in den Fokus nehmen.
Fast wie Palimpseste wirken seine Bildreihen. Das ist ein Begriff aus der Kunstgeschichte für aus mehreren Schichten bestehende Wandgemälde - ganz ursprünglich ein von neuem beschriebenes Pergament -, die in immer wieder neuen Übermalungen entstanden und durch Abblätterung auch teilweise wieder verschwunden sind und die in scheinbar gleicher Ebene Mosaike aus vielen Jahrhunderten und aus unterschiedlichen Perioden und Stilen zeigen. In den gebauten Bildobjekten von Schnackenberg entsteht das Motiv nicht als Prozess eines Zeitablaufes, sondern unter der Maßgabe von Zeitgleichheit und der Prämisse originärer, künstlerischer Gestaltung.
Es scheint natürlich, dass Schnackenbergs Bilder im Prozess des Zufälligen entstehen, da jedes einzelne von ihnen sich als eine Abfolge des Übereinandersetzens von Inhalten und Gedanken darstellt. So, als ob das Bild sich in der Formulierung immer wieder neu entwickelt und fortsetzt, so verdichten sich Formen, Farben, Linien und Inhalte zu einer unauflösbaren Textur, die sich Schritt für Schritt im scheinbar malerischen Prozess entwickelt. Dabei verdanken sich die Arbeiten vor allen Dingen der Imaginationsfähigkeit des Künstlers und seinem reichen Schatz an assoziativen Geschichten, auf denen er seine Kompositionen und Darstellungen gründet. Diesen Entstehungsrhythmus kann der Betrachter nicht wieder in seine einzelnen Schritte auflösen, nachdem das Bild fertiggestellt ist und in seiner endgültigen Fassung vor Augen tritt. Der Rezipient kann daher nur die Bildfetzen erahnen und ist in der assoziativen Betrachtung auf sich selbst geworfen, um jene neue Wirklichkeit zu enträtseln, die sich durch die Verdichtung von Schichten und Strukturen entwickelt. Vielleicht ist dies auch eine der Kernbotschaften von Schnackenberg, dass jeder in der Auseinandersetzung mit Welt und Existenz auf sich gestellt ist und der Künstler auf keinen Fall einen Determinismus vorlegt, sondern die Deutungshoheit seiner Bildobjekte an alle zu gleichen Teilen weitergibt. Seine Bilder sind keine fotografische Dokumentation, sondern gefrorene Momente der Erinnerung, Fixierung des Verlorenen und Sichtbarmachung des Unsichtbaren.
Die daraus entstehenden Bilder transportieren keine Oberflächen oder äußerliche Realitäten mehr, sondern verdichten sich zu seismographischen Bildern innerer Welten.
Fast alle technischen Mittel, die Schnackenberg in seinen Arbeiten verwendet, schaffen Raum ohne Illusion. Die Schichten stehen zueinander im Widerspruch von Verdecken und Enthüllen, von Hinweisen und Entziehen. In dieser Art von Überlagerung, in der die verschiedenen Ebenen nicht unterscheidbar sind sondern verschmelzen, spielt sich das Versinken, das Vergessen und das Erinnern ab. Die Tiefe der Schichtung ist das Analog für Subjektivität. Seine Bildobjekte sind Metaphern der rätselhaften Weltexistenz.
Indem wir in Schnackenbergs Bildfindungen Vorlagen aus Zeitungen oder Magazinen wiedererkennen, die zu einem semitransparenten Gesamtbild verschmelzen, baut er Geschichte über Geschichte, Formsetzung über Formsetzung auf und entwickelt im Fortgang der Komposition Dichte wie Transparenz. Der Betrachter taucht in die Schichten des Davor und Dahinter ein und geht auf die Suche nach Strukturen und Formen der Enträtselung und Erkenntnis, wobei seine Aufmerksamkeit von der Bildoberfläche immer wieder in die Tiefe der Bildgründe gezogen werden. Die Möglichkeit der digitalen Bildbearbeitung hat natürlich noch etliche Facetten und Schichtungen in die Arbeit mit eingebracht, aber dies sind lediglich technische Veränderungen in der Arbeit. Die ursprüngliche Idee und die Intensität, mit der jeweils ein Thema verfolgt, umgesetzt, geschichtet, hinterfragt, vertieft und dadurch immer wieder neu facettiert wird, hat sich nun im Medium der Fotografie realisiert. Ab 2002 kamen alle Arbeitsschritte mit Ausnahme der Endprozesse aus der digitalen Welt. Der Abschluss der Bildsetzungen ist jedoch ist nach vielen Experimenten mit Wachsen, Leimen und Ölen immer noch in der alten Technik der Enkaustik durchgeführt. Die letzte Haut und Oberfläche des Bildes ist Wachs, haptisch, verletzlich und wie ein Schutzraum der Welt im Inneren.
Bilder wie diejenigen Lars Ulrich Schnackenbergs, die kompositionell aufgebaut sind, wie von einem Baumeister entwickelt, haben nie jene Glätte und Leichtigkeit, die bisweilen Arbeiten innewohnt, die aus dem Erleben eines einzigen Momentes entstanden sind. Vielmehr wirken hier aus dem Prozess der Entstehung heraus die Schichten gleichsam wie ein Relief, das die Oberfläche der Bilder nahezu haptisch greifbar macht. Die Mühe, mit der der Maler das Bild gestaltet hat, die Kraft, mit der er in bereits bestehende Schichten hineingearbeitet hat, die Qual auch, mit der die Entstehung oftmals verbunden ist, all dies ist fassbar, ist spürbar und hat seine Spuren hinterlassen.
Den Umgang mit seinen Bildwelten zeigt Schnackenberg in vorliegendem Katalog anhand von vier Gruppen. Existenziell, Narrative Landschaft, Summertime und La vita come comedia dell‘ arte. Immer wieder sind die Themen, die er heranzieht, ursächlich mit der Existenz des Menschen befasst, mit seiner Ohnmacht, seiner Sterblichkeit und mit der Hoffnung auf ein Leben ohne Krieg und Gewalt. Auch – und vielleicht gerade – in den Bildern von Landschaften und Blumen, die scheinbar neutral und voll irdischer Ästhetik eine Welt von Natur und Harmonie zu zeigen scheinen. Aber die Bedrohungen in den Landschaften und der Untertitel der Blumenarrangements – where have all the flowers gone – stellen gerade diese Harmonie in Frage. Bedrückend können diese Bilder sein, genauso, wie sie zu neuem Betrachten, zum Schauen und zum Erleben einladen, da in der Betrachtung Aspekte fixiert werden können, die das erneute Hinsehen fordern und die Spannung zu halten wissen. Schnackenberg zwingt den Betrachter in seinen Bildern zur Auseinandersetzung mit Ideen, Gedanken und mit sich selbst, denn Lars Ulrich Schnackenberg ist ein paraphrasierender Künstler, der im unermüdlichen Austausch mit der Welt seine Bilder baut.
Schnackenbergs Kunst macht nachdenklich – so nachdenklich wie sie ihn selbst macht, wenn er sie entwickelt, aus dem Erleben des Alltags und der Welt heraus. Immer kritisch, ironisch und auch ein wenig sentimental.
Schnackenbergs Kunst macht Spaß - wenn wir unsere Schwächen erkennen, die er mit einem Schmunzeln aufdeckt, und wir uns erkennen.
Schnackenbergs Kunst macht Sinn - denn in jeder seiner Arbeiten steckt seine Philosophie eines Selbstverständnisses, das um Frieden, besseres Verständnis und darum ringt, dass der Mensch, der es doch eigentlich besser weiß, es auch besser machen müsste.
Gabriele Uelsberg
Lars Ulrich Schnackenberg – Life is an open work
Selten trifft man einen Künstler, der über mehr als zwanzig Jahre seinem speziellen Medium und seiner Bildsprache so verhaftet ist, ja in dieser angekommen ist, wie Lars Ulrich Schnackenberg.
Schnackenbergs Bilder sind keine klassische Fotografie, wenn ihnen diese Technik auch zugrunde liegt. Anfangs noch analog, seit vielen Jahren digital, fotografiert der Künstler sowohl in der realen, als auch in der medialen Welt. In Letzterer können es Bilder aus Zeitungen sein, die Schnackenberg abfotografiert und weiterverwendet. Ikonische Bilder des Zeitgeschehens, die sich in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingebrannt haben, wie der historische Kniefall Willy Brandts beim Besuch der Gedenkstätte des ehemaligen Warschauer Ghettos in der Arbeit „Wegen der Menschen da“. Es können auch Ausschnitte von Live-Übertragungen aus den Alpen sein, deren Bergpanoramen – über den Bildschirm flimmernd – vom Künstler in einer einzigartigen Momentaufnahme festgehalten werden und die dem Bildschirm eigenen Raster als ornamentale Strukturen übersetzen. Allen so entstandenen Aufnahmen ist gemein, dass sie vom Künstler digital weiterbearbeitet werden. In einem langwierigen Prozess werden Bilder am Computer zu collageartigen Kompositionen ineinander geschichtet, neu durchdacht, verfremdet und gerastert. Mit ihrer Vielschichtigkeit sind Schnackenbergs Arbeiten in unserer heutigen medialen Welt schnelllebiger Bilder von höchster Aktualität. Als Fine Art Print auf Leinwand gedruckt, werden sie dann mit Enkaustik übermalt. Der Begriff ‚Enkaustik‘ leitet sich her von dem altgriechischen Wort für ‚Einbrennen‘. Sie ist eine Technik, die bereits seit der Antike verwendet wird. Dabei werden Farbpigmente in einer Mischung aus Wachs, Leimen und Ölen heiß auf den Malgrund, in diesem Fall, die bedruckte Leinwand, aufgetragen. So wird nicht nur die Brillanz der darunterliegenden Farben deutlich erhöht, die Enkaustik wirkt auch als eine Art schützende Hülle, die den Inhalt der Bilder konserviert. Dabei ist sie nicht mit einem Firnis zu vergleichen, der nahezu unsichtbaren, maximal leicht glänzenden Schutzschicht, mit der Öl- oder Acrylgemälde behandelt werden. Die Enkaustik ist haptisch, greifbar. Sie lässt uns nachvollziehen, wie der Künstler sie mit dem heißen Maleisen über die Leinwand gezogen hat. So wirkt sie nicht nur wie eine Schutzhülle für das, was unter ihr liegt, durch ihre teils raumgreifende Struktur wirkt sie auch wie ein Bindeglied zwischen dem Bild und der Welt, der es entstammt.
Seine Motive wählt Schnackenberg nicht zufällig. Immer sind es Bilder aus dem Leben, die ihn bewegen und ihn dazu bringen, sie auf die Leinwand zu übertragen. Motive aus dem Zeitgeschehen, die eng mit dem Menschen und seiner Existenz in der Welt verknüpft sind. So wirken sie gleichsam wie die sorgfältig beschriebenen Seiten eines Tagebuchs, von seinem Verfasser immer wieder mit Annotationen versehen, hier ein Bild hinzugefügt, dort etwas überschrieben, immer aufgeladen mit den Emotionen des Künstlers. So sind Schnackenbergs Bilder von überaus persönlicher Natur, sie beziehen sich jedoch auch auf den Menschen im Allgemeinen und auf die Gesellschaft, in der wir leben. Dementsprechend bringen sie nicht nur Freude und Glück mit sich, sondern auch Melancholie und Schmerz über das Erlebte. So fügen sich Schnackenbergs Arbeiten der letzten rund zwanzig Jahre zu einem Bilderzyklus zusammen, einer Geschichte, die sich in vier Kapitel – „Existenziell“, „Narrative Landschaft“, „Summertime“ und „La vita come comedia dell´arte“ - gliedert. Doch erklärt uns schon der übergeordnete Titel, den der Künstler für seine Retrospektive im Roentgen-Museum Neuwied gewählt hat, dass sein Werk hiermit keinen Anspruch auf Abgeschlossenheit erhebt. „Life is an open work“ – das Leben als offenes Werk. Schnackenberg lässt sich mit dieser Überschrift die Option offen, sein Werk – gleich einem Tagebuch – weiterzuführen, denn letzten Endes ist es für ihn auch eine Notwendigkeit, seine Art der Reflektion ihn bewegender Ereignisse.
Sind es häufig Bilder aus den Medien, die Schnackenberg zu seinen Werken inspirieren und ihn die dargestellten Ereignisse auf einer Metaebene reflektieren lassen, so sind es in wieder anderen Bildern direkt erlebte Momente, die uns als Betrachter einen intimen Einblick in das Gefühlsleben des Künstlers ermöglichen. Ein Beispiel hierfür ist das Triptychon „Rheinisches Fest“. Wie in einem Traum huschen hier tanzende Paare schemenartig am Betrachter vorbei, verschwommen, dynamisch, beinahe wie im Rausch gesehen. Hier und da tauchen Bilder von Narrenkappen aus der dichten Überlagerung der Bilder auf und bestätigen die Assoziationen an den rheinischen Karneval, die der Titel des Triptychons schon hervorgerufen hatte. Gleichzeitig versehen sie die Dargestellten mit einem ironischen Augenzwinkern. Es drängt sich der Begriff „sich zum Narren machen auf“. Schnackenberg spielt hier mit der riskanten Schwelle zwischen unbeschwert fröhlicher Ausgelassenheit und Eskalation.
Für den Bilderzyklus „Summertime“ hat sich Schnackenberg mit der Kamera auf den Weg in die Umgebung gemacht. „Um Blumen zu fotografieren – um nach der ganzen Schwere der Themen mal etwas Leichtes, Fröhliches zu bearbeiten“, sagt er. Doch auch hier zeigt sich, dass der Künstler von Oberflächlichkeiten wenig hält. Vielleicht ist es auch eine Selbstverständlichkeit für Schnackenberg, das Tiefgründige auch im vermeintlich offensichtlich Schönen zu suchen. So berichtet er, dass er auf der Suche nach Blumen in der Natur – in der direkten Umgebung seines Ateliers in Unkel am Rhein – nicht fündig wurde. Blumen waren in Balkonkästen, in Vorgärten, in öffentlich angelegten Beeten zu finden, doch nicht in freier Natur. „Where have all the flowers gone?“ lautet der Untertitel dieses Bilderzyklus, angelehnt an den melancholischen Inhalt des Folk-Songs von Pete Seegers aus dem Jahr 1955. Woher stammt nun diese Blütenpracht, die die Bilder in „Summertime“ zeigen? Erst beim genauen Hinsehen, entdecken wir zwischen den traumartig verschleierten und sich überlagernden Blüten Regale, Gitter, Metallaufbauten. Und uns wird klar, hier handelt es sich nicht um wild gewachsene Blüten; es sind Blumen, die – in Regale gepfercht – in Massen im Gartencenter zum Kauf angeboten werden. Und hier enthüllt sich wieder das tiefgründige Gedankengut in Lars Ulrich Schnackenbergs Arbeiten: Freiheit versus Unterdrückung. Ein Gegensatz, der sich in seiner Allgemeingültigkeit von den Blumen auch in andere Bereiche des Lebens übersetzen lässt.
Und das ist überhaupt die Herangehensweise an seine Bilder, die sich der Künstler vom Betrachter wünscht, die er geradezu einfordert: Das genaue Hinsehen, das sich mit der Kunst Beschäftigen. Schnackenbergs Bilder sind keine Kunst zum Konsumieren. Sie eignen sich nicht dazu, an ihnen vorbei zu flanieren und ihre Eindrücke flüchtig auf sich wirken zu lassen. Ihre Ästhetik ist subtil, wenn auch – einmal entdeckt – unglaublich kraftvoll. Botschaften und Geschichten verbergen sich fragmentarisch in ihrem vielschichtigen Inneren. Bildtitel geben uns nur kleine Hinweise auf die Geschehnisse im Bild. Sie sind Aufhänger, Startpunkte, mithilfe derer wir uns intensiv mit den Bildern auseinandersetzen können, um ihre Inhalte zu entschlüsseln. Lassen wir uns darauf ein, beschäftigen wir uns mit Schnackenbergs Bildern, uns selbst und unserer Gesellschaft, so werden wir mit nachhaltigen Erfahrungen reich belohnt.
Jennifer Stein M.A.
Virtuelle Geschichten oder über die Momente
In der Literatur, z. B. bei Georg Christoph Lichtenberg, spielen Momente des Gedankens eine besondere Rolle. Seine Geistesblitze formulierte er in Aphorismen. In den mittelalterlichen Handwerksbetrieben spielten Momente dagegen keine Rolle. Der Künstler war gebunden, die Aufträge waren definiert, das Resultat war vorherzusehen. In langer Strategie wurden die Werke erstellt, damit sie, z. B. zum rituellen Gebrauch, für die Ewigkeit bestimmt sind. Doch die Geschichte hat anders entschieden, fast momentan hat sie das Tradierte zerstört und die eigenen neuen Überlegungen entgegengesetzt. In der bildenden Kunst spielt dieses Momentane, das Zufällige erst eine wirklich große Rolle seit dem 20. Jahrhundert. Jetzt gilt Spontaneität als ein besonderer Vorzug, weil der Künstler sich "unmittelbar und unverfälscht" (Brücke-Manifest 1904) ausdrücken kann. Er wird sozusagen nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt. George Mathieu spricht der Geschwindigkeit des ErstelIens eines Bildes eine besondere und ureigentliche Qualität zu. Künstler erleben im Tachismus und im deutschen Informel Sternstunden, wenn sie Arbeiten so erstellen können, dass sie, so sagt es dann auch der Titel, an einem bestimmten Datum in wenigen Minuten fertig wurden. Die Geschwindigkeit ist Trumpf, auch in der bildenden Kunst - auch bei den Rezipienten. Wenn Lars-Ulrich Schnackenberg Momente erzählt, die er virtuelle Geschichten nennt, dann nicht, weil seine Strategie auf die Geschwindigkeit des ErstelIens ausgerichtet ist. Ihn verbindet immer noch mit den Informellen die Darstellungslust, die aber nun im realistischen Sinne einen Abbildungscharakter findet, der von den Zufälligkeiten und den Momenten der Ereignisse berichtet. Schnackenberg stellt nicht etwas neu hinzu, im Sinne der Abstraktion als eine neue Realität, sondern er baut seine eigenen Bildwirklichkeiten, die er den Momenten als virtuelle Geschichten verantwortet. Es klingt paradox, wenn jetzt gesagt werden muss, dass diese virtuellen Geschichten, diese Momente wirkliche Erlebnisse sind. Schnackenberg berichtet von sic,h selbst in seinen~.
Bildern, von seinen Erfahrungen; von den Merkwürdigkeiten des Alltags; eben von jenen Momenten, die man intensiv lebt, aber auch jenen, die man visuell erfährt; über die Medien, über das Fernsehen, über die Freunde; aber auch in der Aktion mit sich selbst, mit der eigenen Familie, mit der sozialen und wirtschaftlichen Situation, mit dem Atelier. Ge- und erlebte Situationen werden zum Auslöser.
So verstehen sich auch die Titel zu den Darstellungen. Wenn man am Rhein im Biergarten sitzt und der Partner sagt: "Mein Bruder, meine Schwester lebt in Bagdad", exakt an dem Tag, an dem Bagdad bombardiert wird, so wird die Welt anders, merkwürdiger. Ist sie neu zu betrachten, verändert zu schildern. Entstehen diese Momente aus Zufälligkeiten, die von einer größeren Ordnung berichten und die für den Einzelnen objektive Erfahrungen werden, so wirken sie auf die Anderen oft nur zufällig und scheinbar. Schnackenberg berichtet von diesen eigenen, ihm selbst zugereisten Objektivitäten. Ob es nur noch die Momente sind, die Kindertotenlieder von Rückert in der Vertonung von Mahler, so ist er selbst der Welt abhanden gekommen, um als Künstler von dieser Welt zu zeugen. Er führt in der Arbeit "Ulis" zu sich selbst, er verarbeitet Porträts, er verfremdet, er nutzt die neuen Medien, den Computer, den Scanner und die Printer, um eine andere Bildwirklichkeit aufzuzeigen.
Hinter all diesen Handlungen steht ein großer und ernsthafter Versuch, sich selbst zu orten und zugleich zu verorten. Der Künstler ist permanent auf der Suche nach sich selbst, nicht auf der Suche nach den Anderen, nicht nach der Darstellung der Wünsche von anderen. Schnackenberg kann deshalb auch zwischen den Themen pendeln. Er hat sich keine Nische gesucht, denn er weiß, dass er kein Nischenheiliger ist. Er sucht auch nicht die Rückendeckung der Nische. Er ist ein Künstler, der wie die figura serpentinata eines Giovanni da Bologna sich sozial, frei und aufrecht in der Gesellschaft bewegt. Er versteckt nichts, er veröffentlicht; er verneint nicht, er zeigt auf; er lügt nicht, er sucht die Wahrheit. Dass diese einen starken bildnerischen Kontext hat und braucht, versteht sich durch das Metier des Künstlers.
Der Künstler erzählt gerne kleine Geschichten, in denen diese Momente wie Schlaglichter aufleuchten. Dieses literarische Element ist nicht textlich gebunden, also auf eine zu illustrierende Vorlage hin konzipiert, sondern bildnerisch stringent als optischer Aphorismus entwickelt. Die Lust zum Zyklus, zur Wiederholung erweitert das Sehen im Sinne einer sich permanent verändernden Darstellung, so als ob die Metamorphose des Gefundenen das eigentliche Ziel der Repräsentation ist.
So kann sich auch in schweren Zeiten (z.B. Soustrot und von Uslar als Bonner Kulturgeschichte) ein Symbiont entwickeln, Landschaften visuell werden, Gesichter durch ihre Details zu abstrakten Landschaften werden. Anonymitäten entstehen, die bis hin zum Porträt mit Hund von baconhafter Aussage sind.
Das Porträt des Menschen, sein heiliges Abbild, wird zunehmend codiert. Die Momente der eigenen Erfahrbarkeit werden geschildert, sie werden zu Geschichten oder großformatigen Darstellungen, in denen das Erzählbare wiederum sich steigert, weil der Künstler mit redundanten Images operiert. Der Betrachter, der neu vor dem Bild steht, wird durch Wiederholungen geführt. Nach dem ersten Aufnehmen kann er beim zweiten Sehen begreifen, und beim dritten Mal, wenn er dasselbe Abbild sieht, einen Bezug herstellen, der von dialogischer Natur ist.
Verkürzt können Schnackenbergs Geschichten und Momente, seine virtuellen Bilderzählungen wie folgt beschrieben werden: Virtuelle Objektivität ohne Mimesis trotz eines großen Realismus, der als kritische Methode verstanden wird.
Bonn, November 2003
Professor Dr. Dieter Ronte ist Direktor des Kunstmuseums Bonn.
TRUE & FALSE UNCORN Ulrich Schnackenberg, Der PORTRAITIST
If I am fantasy, I am also flesh. Am Iless real than my own anguish? Whether my feelings be false or true, how can I say tilll see what I do? What is a unicorn? And is that I? I am the unicorn. But who I am? Robert Broughton
Wann erkennen wir uns selbst? Und wann die anderen als einmalige Wesen, unverwechselbar? Das Wesen durch die individuellen Züge, die es absetzt von den anderen allen - doch gibt es nicht Kulturen, in denen das Individuum nichts, die Kommunität alles gibt? Die Einzelnen wären darum dort nicht weniger unaustauschbare. Wir sehen die Züge einmal. Und wir müssen uns sie ins Erinnern im Vergleich zu allen anderen, die wir sahen, um sie als jene Einzigartigen zu Gegenwärtigem, sie zu unterscheiden. Menschen, deren eine Hirnhemisphäre verletzt worden war, verlieren zuweilen zwar die Fähigkeit nicht, Auge, Nase, Ohren, Kinn und Mund wahrzunehmen. Wohl aber, sie zur Person zu fügen. Der Andere, gleich wie vertraut, bleibt ihnen fremd. Sie erkennen ihn nun mehr an der Stimme. Auch schafft die Ferne uns Distanz: weiter als über achthundert Meter hinweg sind wir nicht mehr imstande, andere zu identifizieren. Ein wenig näher und Gestalt und Gestik reicht uns dazu völlig aus, auch wenn das Gesicht ein noch so kleiner Fleck ist. Diese Mimik, Züge, Blicke machen uns dem Gegenüber aus, gleich ob zuoder abgeneigterweise. Deformation schreckt uns, auch weil sie immer die Furcht vor dem eigenen Gesichtsverlust gemahnt, dort, wo die Züge entgleisen, gelöscht werden. Unheimlicher: unser eigenes photographisches Antlitz oder das eines anderen halbseitig gespiegelt zu erleben, je nur zwei linke oder rechte Hälften zu einem neuen Gesicht vereinigt, das Charakterzüge enthüllt, die man am liebsten schützend verdeckte oder verschwiege. Und mit welcher Gewissheit sind wir doch vermöge, einer alten Figur zu entnehmen, ob sie ein lebendiges Vorbild hatte, oder aber, ob ihre Geschichte nur das vordergründige Imitieren eines allgemeinen Idealantlitz wären: so ungeheuer persönliche Präsenz viel von der altägyptischen Skulptur wie affektenentleerte Larve der Häupter des klassischen Griechenlands, ungefüg viel Mittelalterliches, fast physisch fassbare Anwesenheit der Naumburger Stifterfiguren. Man kann das Wesen eines Menschen fangen, scheint es, manchmal, indem man seine Charakteristika entfremdet und noch übertreibt.
Heute kann man ihn auch klonen.
Der alte Traum des Homunculus ist ausgeträumt, der Schläfer ist erwacht und züchtet eifrig; hatten auch die Künstler von je stets Figuren nach ihrem Ebenbilde geschaffen, so waren die Folgen doch nie katastrophaler als jetzt. In den Phantasien des utopischen Romans, in Hollywoods bewegten Bildern, wimmelt es von modernen Prometheen, von doublierten Wesen, virtuellen Göttinnen, Kreaturen, die aller täglichen Erfahrung nach zwar völlig unmögliche sind, desungeachtet jedoch völlig überzeugende zu sein vermöchten. Die Frage nach dem individuell Fassbaren stellt sich davor neu. Eingeborene Völker haben auch heute noch den Horror vor dem Konterfeitwerden, wie ein Bild zu machen hieße, Macht über jene Seele zu erlangen. Wie reagierten sie wohl auf die Vorstellung, dass es möglich ist das eigene lebendige Ebenbild zu generieren? Hörte das Individuum auf einzeln zu sein, wäre Portrait die Masse der gleichen.
Vor diesem Hintergrund, nicht im Elfenbeinturm entstanden, sondern Auges für die umgebende Welt und ihre Fährnisse, entstehen Ulrich Schnackenbergs Figurenbilder, die portraithafte sind, gesehen sie doch meistenteils aufgrund identifizierbarer Bildnisse, Abbildungen - und ihrer Sublimierung. Sind die Personen anwesende noch im schemenhaftem Schatten, in der aufgerasterten Grobkörnung des Drucks, in der Umformatierung, die wie ein Zerrspiegel die Gestalten dehnt und staucht, ganz nach Gusto und bildnerischer Notwendigkeit. Nehmen Fehlfarben an, auch dies ist ja ein Verlust haltbarer Wirklichkeit, sind in unvermutete Versammlung und Konjunktionen gebracht, oder zur Gruppe gedoppelt und vervielfältigt: dann wird das immergleiche Mädchenantlitz, mal nach
links, mal nach rechts gewendet - und wieviel Charakterveränderung scheint allen diese Spiegelung zu bewirken! - ein jedes Mal fast anders, neu und eigen. Überblendungen geschehen, dort will und kann das Auge des Betrachters sich gar nicht mehr festlegen, welche Kontur, wessen Silhouette nun die eigentliche, welche eine Art von dunklem Astralkörper ist. Vereinigen wir denn nicht alle verschiedene Möglichkeiten, Wesenhaftigkeiten in uns? Wieder anders wird durch die Titel selbst erst ausgesetzt, "Kindertotenlieder", erschienen sie uns vorher nicht schon heimgesuchte? Andere heben einzelne aus der Masse als wären sie in ihr verloren. Gesichter von Idolen, Heiden der Massenkultur, notorisch, allgegenwärtig in ihrem Abbild, verletzliche geworden in ihrer Kenntlichkeit. Ein dicker Mann mit Hund. Der Künstler selber, abwesend, vorhanden, aber in den Straßenzügen seiner Heimatstadt. Auch das Portrait in den Zeiten seiner Gefährdung. Den Zeitläufen angemessen, nutzt er die neuesten technischen Errungenschaften: Rechner und Drucker, Scanner und optischen Printer, speist, was sich in Abbildungen in den Maschen des weltumspannenden Netzes finden und an Land ziehen ließe, ein, montiert, fügt, schafft Zwitter, Chimären, Interferenzen, die anders kaum machbar gewesen wären. Bedeckt sie hernach jedoch mit Patina und Stofflichkeit von Wachsen, auf dass sie nicht flüchtige sondern greifbare wären. Glaubhafte. Auf dass wir uns darin erkennen mögen ...
14. Dezember 2003
Gerhard van der Grinten, Esq., ist Maler, Grafiker und Publizist.
Instabile Gleichgewichte
"Kleine Geschichten" -Schnackenbergs neue Arbeiten sind in ihrer Intimität und Privatheit eine Überraschung und in ihrem künstlerischen Zugriff eine kleine Offenbarung. Was Schnackenberg in diesen aus unterschiedlichem Bildmaterial zusammenmontierten, aufwändig digital bearbeiteten und mit farbigen Wachsen überzogenen Bildern gibt, sind - trotz des Titels "Kleine Geschichten" - nicht wirklich zusammenhängende Geschichten. Es sind eigentlich "Mitteilungen an die Freunde", von Stimmungen und Gefühlen getragene Betrachtungen, tagebuchhafte Bekenntnisse, flüchtige Notate, bildliche Reminiszenzen und Ahnungen, die Schnackenberg aus persönlicher Perspektive und aus persönlicher Betroffenheit zu Sinnbildern von hoher poetischer Prägnanz verdichtet hat.
Die Bilder handeln von Liebe vor allem, von Heimat und vom Tod.
Der Tod begegnet mehrfach: als katastrophaler Tod des 11. September, aber auch als einsamer Tod des Mannes, der unter einer Wäscheleine flach dahingestreckt liegt.
Die Liebe und die Sehnsucht danach sind das Hauptthema dieser Szenen. Zwischen Mann und Frau kommt es zu Begegnungen und "versuchten Nähen", häufiger aber zu Verfehlungen, zu Lossagungen, Zerwürfnissen. Eine Frau fortgeschrittenen Alters kehrt leitmotivisch auf mehreren Tafeln wieder; sie ist Frau, Geliebte, Mutter, Konkurrentin und Verlassene: ein Sinnbild der Vergänglichkeit, der versäumten Gelegenheit und des Abschieds.
Unausweichlich ist der Tod, flüchtig sind die Begegnungen, beständig ist nur die Natur der Bergwelt, die auf Schnackenbergs Berchtesgardener Herkunft verweist. Doch fast immer geht es in den von Entsetzen, Wehmut und Sehnsucht, mitunter aber auch von Gelächter getragenen Szenen um instabile Gleichgewichte.
Schnackenbergs Bilder sind keine diskursiven Abhandlungen, es sind visuelle Gedichte. Die Themen greifen ineinander, die Eindrücke vermischen sich mit anderen Eindrücken, mit Erinnerungen, Gefühlen, Ahnungen. Um diese Komplexität der Realitätsebenen sinnfällig zu machen und um zu zeigen, wie brüchig die Wahrnehmung und wie privat das Öffentliche und wie öffentlich das Private sind, führt Schnackenberg heterogenes Bildmaterial zusammen: ältere und neue Fotos von seiner Hand, Postkarten und immer wieder auch Fotos, die er der Tageszeitung entnimmt.
Ist die Form der Montage der adäquate Ausdruck des Inhalts, so rührt auch die singuläre optische Brillanz von Schnackenbergs originärer Technik her. Er bearbeitet die Fotos in einem aufwändigen digitalen Verfahren künstlerisch am Computer. In einem weiteren Arbeitsschritt überzieht er die ausgedruckten Bilder mit Wachs und geht noch weiter, indem er das mit farbigem Wachs überzogene Büttenpapier auf Leinwand appliziert und es erneut mit Wachs bearbeitet. Letztlich spielt das Medium, die künstlerische Gattung, keine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, Vorstellungen von "Bild heute" umzusetzen. Denn egal ob Foto, digitales Bild, ob Zeichnung, Gemälde oder alles zusammen: Was zählt sind gute Bilder, Bilder, die in die Tiefe gehen, die aus Häutungen und Schichtungen entstehen und die so eine komplexe Weitsicht vermitteln. Genau dies tun Schnackenbergs "Kleine Geschichten".
Dr. Martin Seidel arbeitet als freier Kunsthistoriker und Publizist in Bonn.
Wisse das Bildoder Von der Kunst als Aufforderung
"Wisse das Bild" ist der Titel des jüngsten Projektes von Lars Ulrich Schackenberg, vorgestellt 2013 im Kunstverein Linz am Rhein. Die Arbeit aus dem Jahr 2013 ist ein vielteiliger Zyklus, Mixed Media als Digitaldruck auf Acryl. Er ist dadurch strukturiert, dass alle Bilder zweimal zu sehen sind, einmal in der vom Künstler behandelten Version und zum zweiten Mal mit einer Spiegelung durch das Fenster, in der Fotografie von Thilo Beu. Schon diese Vorgabe verspricht die Aufforderung zu einem vertieften und vergleichenden Sehen. In der Tat ist der imperative Aufforderungscharakter dieser Bilder sehr stark und weit von demjenigen früherer Arbeiten des Künstlers entfernt.
Zusätzlich bindet der Künstler literarische Texte mit ein, die für das Lesen der Bilder von entscheidender Bedeutung sind. Die Arbeit ist sehr komplex. Das Gedicht von Friedrich Rückert (1788 – 1866): "Ich bin der Welt abhanden gekommen" reimt den Zusammenhang zwischen der Welt und dem Einzelnen, der mit ihr schon so viel Zeit verdorben hat; ein Hinweis auf das Denken des Künstlers, der seine eigene heutige Position in Bezug auf die Gesellschaft, sein Arbeitsfeld und vor allem in Bezug zu sich selbst formuliert. Er hat sich aus den soziopolitischen und utopischen Kämpfen herausgezogen. Er liest keine soziopolitischen Bücher mehr, keine Kunstgeschichten oder andere wissenschaftlichen Abhandlungen, er liest Science-Fiction - Romane auf der Suche nach einer anderen Welt, er liebt die Wahrheit der Märchen, weil diese vielleicht nicht die Realitäten verändern, aber sehr wohl mit ihren Wahrheiten in das Denken und Fühlen eines jeden Einzelnen eingreifen können. Auf diesem meditativen Weg sind die Arbeiten entstanden, die jetzt den Weg in die öffentliche Diskussion finden und dadurch nicht Anteilnahme, aber sehr wohl ein Mitdenken des Betrachters und sein sich selbst Befragen erfordern.
Der Zyklustitel steht in den 'Sonetten an Orpheus' von Rainer Maria Rilke (1875 – 1926), die der Dichter 1922 als Grabmal für Wera Ouckama Knoop in Chateau de Muzot im schweizerischen Rhônetal schrieb. Im neunten Sonett heißt es: "Mag auch die Spiegelung im Teich/ oft uns verschwimmen:/ Wisse das Bild." Mit dieser Vorgabe begibt sich Schnackenberg auf seine Bildspuren, die sich mit der Vergangenheit seiner früheren Bilder und Ausstellungen in Beziehung setzen. Dazu dient ihm ein unendlich großes Reservoir an Erinnerungen, sowohl eigenen, als auch in den Ordnern seiner Computer und den Schätzen der Fernseharchive. Für jede persönliche Erinnerung findet er das passende Bild, das bearbeitet also hin zur richtigen Erinnerung manipuliert wird, um im Bild eine neue Verantwortung zu tragen, die sich als Bild gedanklich festgesetzt hat und nun durch die Spiegelung 'verundeutlicht' und leicht verzerrt wird und als noch mühsamer abzulesen eine neues dialogisches Leben beginnt, das im rationalen wie emotionalen Gespräch der beiden Partner die eigentlichen mentalen Aussagen eruiert.
Bei Rilke heißt es im textlichen Anschluss weiter: "Erst im Doppelbereich/ werden die Stimmen/ ewig und mild." Dieser Doppelbereich ist immer für Künstler, die nicht einem starren Konzept folgen, ein darstellendes Ereignis, es ist die 'Parallelaktion', von der Robert Musil (1880 – 1942) in 'Der Mann ohne Eigenschaften' 1930 spricht. Eine Parallelaktion zum Leben, die Erkenntnisse und Änderungen im Sinne einer berechtigten Wegweisung ermöglichen soll. Es ist die Suche nach dem 'alter ego' als dem wichtigsten Gesprächspartner im Leben. Es bedeutet aber auch Rückzug zu sich selbst. Heute müssen wir lernen, die Realität von den virtuellen Welten zu unterscheiden; wir, die wir schon nicht mehr wissen, wer uns mehr beeinflusst, die Wirklichkeit oder doch schon die virtuellen Realitäten, die die jüngsten Generationen mit Sicherheit stärker beeinflussen als die älteren Erziehungsberechtigten, die eine Verpflichtung tragen, ihre Kinder für die Zukunft flexibel und mit Phantasie resistent zu machen.
Auch davon spricht der Zyklus, so dass der Künstler doch wieder aus seiner erhofften Märchenwelt ausbricht, um den nach vorne zeigenden Weg einzuschlagen, allerdings ohne jeden pädagogischen Zeigefinger. Das Spielerische im Umgang mit den Bildern bleibt immer erhalten. "You can leave your hat on", singt Joe Cocker in einem Fernsehclip, der ebenfalls der Spiegelung unterzogen wird. Das "Weltbild Rolling Stones" zeigt an, wie das Fiebern nach der neuen Musik die Welt erobert hat und auch das Herz des damals jungen bildenden Künstlers.
Jede einzelne Arbeit mit ihrer Spiegelung zeigt das Denken des Künstlers auf, der zudem sehr frühe Skizzen aus seiner Hand des suchenden Künstlers in das neue Bildgeschehen integriert, wie bei "Weltbild Theater", bei dem ebenso wie in "Weltbild Vision" frühere Darstellungen mit den heutigen verwoben werden. Denn der Zyklus zeigt einen Werdegang auf, eine chronologische, wenn auch unlogische Wanderung durch das Leben. Doch der Rahmen ist so gesetzt, dass nie eine Illustration entstehen kann, sondern das freie Spiel erhalten bleibt und anregende Phantasie agieren kann. Das Eingangsbild mit dem Titel nach Rückerts erstem Satz " Ich bin der Welt abhanden gekommen" schlägt wie ein breites Panorama die Sicht auf den Gang durchs Leben auf. Links und rechts geht eine Rückenfigur mit über die Schultern gehängtem Mantel in das Bild hinein. Beide sind rechts und links von sich spiegelnder Architektur begrenzt, in der Mitte sehen wir Bildfelder mit Frauengesichtern. Darüber schiebt sich quer als Krönung des Bildes eine Welt aus Architektur und Natur, aus Gebautem und flüchtigen Wolkenformationen, alles metaphorische Angaben des Künstlers zur Darstellung unserer Welt, die auch als "Weltbild Extinktion" die Brüchigkeit von Frauenkopf und verwischten architektonischen Verhältnissen zeigen kann: Die Unsicherheit unser selbst gebauten Räume. Das erste Bild ist zudem die Wiederaufnahme und Veränderung einer Arbeit aus dem Jahr 2003, "Virtuelle Geschichten 4", Papier und Wachs auf Leinwand, fünfteilig, bei dem die einzelnen Motive viel realistischer herausgearbeitet sind (L.-U.Schnackenberg: Momente, Galerie Acht P! Pravato, Bonn, 2004, Kat. S.21). Mit den Weltbildern diskutiert der Künstler auch sein früheres Werk und seine Ausstellungen als work in progress. In diesem Katalog schreibe ich von einem "Realismus als kritische Methode" (S. 6 ). Martin Seidel erklärt: "Schnackenbergs Bilder sind keine diskursiven Abhandlungen, es sind visuelle Gedichte" (ebd., S. 26).
Die Verhältnisse verschieben sich. So verwundert es auch nicht, das in "Weltbild Theater" die Weltkarte nicht eine eurozentrische Darstellung ist, sondern in der Mittelachse Nord- und Südamerika zeigt, begleitet von obskuren, skurrilen luftmobilen Geräten, die etwas Tierisches an sich tragen und dennoch zum Reisen in die Welten der Phantasie ermuntern. Denn der Hintergrund aller Weltbilder ist eine Weltkarte, mehr oder weniger sichtbar, die wie aus einer Marmorierung nach vorne dringt, und durch die mögliche Zuordnung von Orten, Ländern, Kontinenten dem Betrachter viele zusätzliche Orientierungsoptionen bietet. Sie steht, (wisse das Bild!), für das Bild der Orte mit ihren jeweiligen Verhältnissen, womit der Künstler die jeweiligen unterschiedlichen Fragen des kulturellen Kontextes, der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen aufgreift.
Der Künstler, der Bildhauerei studiert und gelehrt hat, formt jetzt nicht mehr einzelne Werkstücke, sondern setzt seinen Weg, der vor gut anderthalb Jahrzehnten begonnen hat, in die medialen Abenteuer konsequent fort. Der Besucher fährt in eine wahrhaft vielschichtige Welt ein. Die Bilder sind in der Montagetechnik perfekt in einem langen, suchenden Prozess komponiert. Sie sind Arrangements, die den Betrachter unmittelbar in ihren Bann ziehen, zumal er sich in den spiegelnden Oberflächen der Bilder selbst sieht und somit unmittelbar einbezogen wird. Das Prinzip Spiegelung ist ein unendliches, eine Erkenntnis, die damit spielt, dass ein Bild Räume bestimmt und gleichzeitig von ihnen bestimmt wird, das ein Bild durch Spiegelungen zusätzliche Informationen aufnehmen kann, und zwar nicht nur durch Spiegelungen sondern auch durch die Gespräche, die es anleitet. Ein Bild ist nie fertig, aber nur dann von hoher Qualität, wenn es Dialoge initiieren kann, von denen der Künstler, bevor er das Bild an die Öffentlichkeit weitergibt, nichts wissen kann. Die Bilder von Schnackenberg werden dieser Aufladung durch diese außerbildlichen Vorgänge in hohem Maße gerecht. Das zeigt auf, dass der Aufforderungs-Charakter ein elementarer Bestandteil der Bilder ist, mit denen allerdings letztlich der Künstler sich selbst spiegelt.
Spiegelung ist immer auch die Erweiterung des Raumes und der Sicht. Sie erlaubt eine andere Distanzierung. In seinen philosophischen Beschäftigungen mit der Kunst in den Berliner Simmel-Vorlesungen denkt der Philosoph Dieter Henrich über diese Distanz nach: "Ist doch die Distanz, die sich kraft der ästhetischen Betrachtung aufbaut, aus einer Umbildung ebendieser Weltbeziehung zu erklären." ( D. Henrich, Versuch über Kunst und Leben, Edition Akzente, München 2001, S.211) und "Von der Verschiebung der Perspektive auf die Welt und in der Ambivalenz, die sich zwischen mehreren solchen Perspektiven ausbilden kann, ist immer zugleich das Subjekt als solches betroffen. Sein Ursprung ist ihm entzogen. Und eine Bewandtnis seines Lebens kann sich ihm nur durch eine bestimmte Besetzung des für es offenen Deutungsraumes erschließen." (ibd., S. 213). Die Methode des kritischen Realismus erschließt wie beim dialektischen Theater von Bertold Brecht (1898 – 1950) automatisch eine Distanz zum Vorgebrachten und das Mitdenken des Theaterbesuchers mit ein.
'Wisse das Bild' befindet sich in guter Gesellschaft und ist dennoch so neu und so anders, weil der Künstler in einem mentalen abstrahierenden Vorgang auf jeden illustrierenden Charakter seiner Bilderfindungen verzichtet. Dieses Streben nach virtuellen Lebensrändern zeigt "Delpasse-Effekt". Der Delpasse-Effekt benennt die neurologischen Untersuchungen an dem Unbegreiflichen, die Theorie des Seins an der Schwelle des Todes. Schnackenberg erzählt nicht von einer wissenschaftlichen Kartierung der Welt, von ihrer Bestandsaufnahme oder Vermessung, sondern von einer Welt, in der sich die Menschen in ihrer Endlichkeit die Realität mit ihren Träumen und Märchen teilen müssen.
Bonn, Juni 2014
Professor Dr. Dieter Ronte ist Direktor des Kunstmuseums Bonn.