Texte

Virtuelle Geschichten oder über die Momente

In der Literatur, z. B. bei Georg Chris­toph Lichtenberg, spielen Momente des Gedankens eine besondere Rolle. Seine Geistesblitze formulierte er in Aphorismen. In den mittelalterlichen Handwerksbetrieben spielten Momen­te dagegen keine Rolle. Der Künstler war gebunden, die Aufträge waren definiert, das Resultat war vorher­zusehen. In langer Strategie wurden die Werke erstellt, damit sie, z. B. zum rituellen Gebrauch, für die Ewigkeit bestimmt sind. Doch die Geschichte hat anders entschieden, fast momen­tan hat sie das Tradierte zerstört und die eigenen neuen Überlegungen ent­gegengesetzt. In der bildenden Kunst spielt dieses Momentane, das Zufälli­ge erst eine wirklich große Rolle seit dem 20. Jahrhundert. Jetzt gilt Spontaneität als ein be­sonderer Vorzug, weil der Künstler sich "unmittelbar und unverfälscht" (Brücke-Manifest 1904) ausdrücken kann. Er wird sozusagen nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt. George Mathieu spricht der Geschwin­digkeit des ErstelIens eines Bildes eine besondere und ureigentliche Qualität zu. Künstler erleben im Tachismus und im deutschen Informel Sternstunden, wenn sie Arbeiten so erstellen können, dass sie, so sagt es dann auch der Ti­tel, an einem bestimmten Datum in wenigen Minuten fertig wurden. Die Geschwindigkeit ist Trumpf, auch in der bildenden Kunst - auch bei den Rezipienten. Wenn Lars-Ulrich Schnackenberg Momente erzählt, die er virtuelle Geschichten nennt, dann nicht, weil seine Strategie auf die Geschwindig­keit des ErstelIens ausgerichtet ist. Ihn verbindet immer noch mit den Informellen die Darstellungslust, die aber nun im realistischen Sinne einen Abbildungscharakter findet, der von den Zufälligkeiten und den Momen­ten der Ereignisse berichtet. Schna­ckenberg stellt nicht etwas neu hinzu, im Sinne der Abstraktion als eine neue Realität, sondern er baut seine eigenen Bildwirklichkeiten, die er den Momenten als virtuelle Geschichten verantwortet. Es klingt paradox, wenn jetzt ge­sagt werden muss, dass diese virtu­ellen Geschichten, diese Momente wirkliche Erlebnisse sind. Schnacken­berg berichtet von sic,h selbst in seinen~.

Bildern, von seinen Erfahrungen; von den Merkwürdigkeiten des Alltags; eben von jenen Momenten, die man intensiv lebt, aber auch jenen, die man visuell erfährt; über die Medien, über das Fernsehen, über die Freunde; aber auch in der Aktion mit sich selbst, mit der eigenen Familie, mit der sozialen und wirtschaftlichen Situation, mit dem Atelier. Ge- und erlebte Situatio­nen werden zum Auslöser.

So verstehen sich auch die Titel zu den Darstellungen. Wenn man am Rhein im Biergarten sitzt und der Part­ner sagt: "Mein Bruder, meine Schwes­ter lebt in Bagdad", exakt an dem Tag, an dem Bagdad bombardiert wird, so wird die Welt anders, merkwürdiger. Ist sie neu zu betrachten, verändert zu schildern. Entstehen diese Momente aus Zufälligkeiten, die von einer grö­ßeren Ordnung berichten und die für den Einzelnen objektive Erfahrungen werden, so wirken sie auf die Anderen oft nur zufällig und scheinbar. Schna­ckenberg berichtet von diesen eigenen, ihm selbst zugereisten Objektivitäten. Ob es nur noch die Momente sind, die Kindertotenlieder von Rückert in der Vertonung von Mahler, so ist er selbst der Welt abhanden gekommen, um als Künstler von dieser Welt zu zeugen. Er führt in der Arbeit "Ulis" zu sich selbst, er verarbeitet Porträts, er verfremdet, er nutzt die neuen Medien, den Com­puter, den Scanner und die Printer, um eine andere Bildwirklichkeit aufzu­zeigen.

Hinter all diesen Handlungen steht ein großer und ernsthafter Versuch, sich selbst zu orten und zugleich zu verorten. Der Künstler ist permanent auf der Suche nach sich selbst, nicht auf der Suche nach den Anderen, nicht nach der Darstellung der Wünsche von anderen. Schnackenberg kann deshalb auch zwischen den Themen pendeln. Er hat sich keine Nische gesucht, denn er weiß, dass er kein Nischenheiliger ist. Er sucht auch nicht die Rückende­ckung der Nische. Er ist ein Künstler, der wie die figura serpentinata eines Giovanni da Bologna sich sozial, frei und aufrecht in der Gesellschaft be­wegt. Er versteckt nichts, er veröffent­licht; er verneint nicht, er zeigt auf; er lügt nicht, er sucht die Wahrheit. Dass diese einen starken bildnerischen Kontext hat und braucht, versteht sich durch das Metier des Künstlers.

Der Künstler erzählt gerne kleine Geschichten, in denen diese Momente wie Schlaglichter aufleuchten. Dieses literarische Element ist nicht textlich gebunden, also auf eine zu illustrie­rende Vorlage hin konzipiert, sondern bildnerisch stringent als optischer Aphorismus entwickelt. Die Lust zum Zyklus, zur Wiederholung erweitert das Sehen im Sinne einer sich permanent verändernden Darstellung, so als ob die Metamorphose des Gefundenen das eigentliche Ziel der Repräsenta­tion ist.

So kann sich auch in schweren Zei­ten (z.B. Soustrot und von Uslar als Bonner Kulturgeschichte) ein Symbi­ont entwickeln, Landschaften visuell werden, Gesichter durch ihre Details zu abstrakten Landschaften werden. Anonymitäten entstehen, die bis hin zum Porträt mit Hund von baconhafter Aussage sind.

Das Porträt des Menschen, sein hei­liges Abbild, wird zunehmend codiert. Die Momente der eigenen Erfahrbarkeit werden geschildert, sie werden zu Geschichten oder großformatigen Darstellungen, in denen das Erzähl­bare wiederum sich steigert, weil der Künstler mit redundanten Images ope­riert. Der Betrachter, der neu vor dem Bild steht, wird durch Wiederholungen geführt. Nach dem ersten Aufnehmen kann er beim zweiten Sehen begreifen, und beim dritten Mal, wenn er dassel­be Abbild sieht, einen Bezug herstel­len, der von dialogischer Natur ist.

Verkürzt können Schnackenbergs Geschichten und Momente, seine virtuellen Bilderzählungen wie folgt beschrieben werden: Virtuelle Objekti­vität ohne Mimesis trotz eines großen Realismus, der als kritische Methode verstanden wird.

Bonn, November 2003

Professor Dr. Dieter Ronte ist Direktor des Kunstmuseums Bonn.

TRUE & FALSE UNCORN Ulrich Schnackenberg, Der PORTRAITIST

If I am fantasy, I am also flesh. Am Iless real than my own anguish? Whether my feelings be false or true, how can I say tilll see what I do? What is a unicorn? And is that I? I am the unicorn. But who I am? Robert Broughton

Wann erkennen wir uns selbst? Und wann die anderen als einmalige We­sen, unverwechselbar? Das Wesen durch die individuellen Züge, die es absetzt von den anderen allen - doch gibt es nicht Kulturen, in denen das In­dividuum nichts, die Kommunität alles gibt? Die Einzelnen wären darum dort nicht weniger unaustauschbare. Wir sehen die Züge einmal. Und wir müs­sen uns sie ins Erinnern im Vergleich zu allen anderen, die wir sahen, um sie als jene Einzigartigen zu Gegenwärti­gem, sie zu unterscheiden. Menschen, deren eine Hirnhemisphäre verletzt worden war, verlieren zuweilen zwar die Fähigkeit nicht, Auge, Nase, Oh­ren, Kinn und Mund wahrzunehmen. Wohl aber, sie zur Person zu fügen. Der Andere, gleich wie vertraut, bleibt ih­nen fremd. Sie erkennen ihn nun mehr an der Stimme. Auch schafft die Ferne uns Distanz: weiter als über achthun­dert Meter hinweg sind wir nicht mehr imstande, andere zu identifizieren. Ein wenig näher und Gestalt und Gestik reicht uns dazu völlig aus, auch wenn das Gesicht ein noch so kleiner Fleck ist. Diese Mimik, Züge, Blicke machen uns dem Gegenüber aus, gleich ob zuoder abgeneigterweise. Deformation schreckt uns, auch weil sie immer die Furcht vor dem eigenen Gesichtsverlust gemahnt, dort, wo die Züge entglei­sen, gelöscht werden. Unheimlicher: unser eigenes photographisches Ant­litz oder das eines anderen halbseitig gespiegelt zu erleben, je nur zwei linke oder rechte Hälften zu einem neuen Gesicht vereinigt, das Charakterzüge enthüllt, die man am liebsten schüt­zend verdeckte oder verschwiege. Und mit welcher Gewissheit sind wir doch vermöge, einer alten Figur zu entneh­men, ob sie ein lebendiges Vorbild hatte, oder aber, ob ihre Geschichte nur das vordergründige Imitieren ei­nes allgemeinen Idealantlitz wären: so ungeheuer persönliche Präsenz viel von der altägyptischen Skulptur wie affektenentleerte Larve der Häup­ter des klassischen Griechenlands, ungefüg viel Mittelalterliches, fast physisch fassbare Anwesenheit der Naumburger Stifterfiguren. Man kann das Wesen eines Menschen fangen, scheint es, manchmal, indem man seine Charakteristika entfremdet und noch übertreibt.

Heute kann man ihn auch klonen.

Der alte Traum des Homunculus ist ausgeträumt, der Schläfer ist erwacht und züchtet eifrig; hatten auch die Künstler von je stets Figuren nach ihrem Ebenbilde geschaffen, so waren die Folgen doch nie katastrophaler als jetzt. In den Phantasien des utopi­schen Romans, in Hollywoods beweg­ten Bildern, wimmelt es von modernen Prometheen, von doublierten Wesen, virtuellen Göttinnen, Kreaturen, die aller täglichen Erfahrung nach zwar völlig unmögliche sind, desunge­achtet jedoch völlig überzeugende zu sein vermöchten. Die Frage nach dem individuell Fassbaren stellt sich davor neu. Eingeborene Völker haben auch heute noch den Horror vor dem Konterfeitwerden, wie ein Bild zu machen hieße, Macht über jene Seele zu erlangen. Wie reagierten sie wohl auf die Vorstellung, dass es möglich ist das eigene lebendige Ebenbild zu generieren? Hörte das Individuum auf einzeln zu sein, wäre Portrait die Mas­se der gleichen.

Vor diesem Hintergrund, nicht im El­fenbeinturm entstanden, sondern Au­ges für die umgebende Welt und ihre Fährnisse, entstehen Ulrich Schnacken­bergs Figurenbilder, die portraithafte sind, gesehen sie doch meistenteils aufgrund identifizierbarer Bildnisse, Abbildungen - und ihrer Sublimierung. Sind die Personen anwesende noch im schemenhaftem Schatten, in der auf­gerasterten Grobkörnung des Drucks, in der Umformatierung, die wie ein Zerrspiegel die Gestalten dehnt und staucht, ganz nach Gusto und bildne­rischer Notwendigkeit. Nehmen Fehl­farben an, auch dies ist ja ein Verlust haltbarer Wirklichkeit, sind in unvermu­tete Versammlung und Konjunktionen gebracht, oder zur Gruppe gedoppelt und vervielfältigt: dann wird das im­mergleiche Mädchenantlitz, mal nach

links, mal nach rechts gewendet - und wieviel Charakterveränderung scheint allen diese Spiegelung zu bewirken! - ein jedes Mal fast anders, neu und eigen. Überblendungen geschehen, dort will und kann das Auge des Be­trachters sich gar nicht mehr festlegen, welche Kontur, wessen Silhouette nun die eigentliche, welche eine Art von dunklem Astralkörper ist. Vereinigen wir denn nicht alle verschiedene Mög­lichkeiten, Wesenhaftigkeiten in uns? Wieder anders wird durch die Titel selbst erst ausgesetzt, "Kindertoten­lieder", erschienen sie uns vorher nicht schon heimgesuchte? Andere heben einzelne aus der Masse als wären sie in ihr verloren. Gesichter von Idolen, Hei­den der Massenkultur, notorisch, allge­genwärtig in ihrem Abbild, verletzliche geworden in ihrer Kenntlichkeit. Ein dicker Mann mit Hund. Der Künstler selber, abwesend, vorhanden, aber in den Straßenzügen seiner Heimatstadt. Auch das Portrait in den Zeiten seiner Gefährdung. Den Zeitläufen angemes­sen, nutzt er die neuesten technischen Errungenschaften: Rechner und Dru­cker, Scanner und optischen Printer, speist, was sich in Abbildungen in den Maschen des weltumspannenden Net­zes finden und an Land ziehen ließe, ein, montiert, fügt, schafft Zwitter, Chi­mären, Interferenzen, die anders kaum machbar gewesen wären. Bedeckt sie hernach jedoch mit Patina und Stofflichkeit von Wachsen, auf dass sie nicht flüchtige sondern greifbare wären. Glaubhafte. Auf dass wir uns darin erkennen mögen ...

14. Dezember 2003

Gerhard van der Grinten, Esq., ist Maler, Grafiker und Publizist.

Instabile Gleichgewichte

"Kleine Geschichten" -Schnackenbergs neue Arbeiten sind in ihrer Intimität und Privatheit eine Überraschung und in ihrem künstlerischen Zugriff eine kleine Offenbarung. Was Schnacken­berg in diesen aus unterschiedlichem Bildmaterial zusammenmontierten, aufwändig digital bearbeiteten und mit farbigen Wachsen überzogenen Bildern gibt, sind - trotz des Titels "Kleine Geschichten" - nicht wirklich zusammenhängende Geschichten. Es sind eigentlich "Mitteilungen an die Freunde", von Stimmungen und Gefühlen getragene Betrachtungen, tagebuchhafte Bekenntnisse, flüch­tige Notate, bildliche Reminiszenzen und Ahnungen, die Schnackenberg aus persönlicher Perspektive und aus persönlicher Betroffenheit zu Sinnbil­dern von hoher poetischer Prägnanz verdichtet hat.

Die Bilder handeln von Liebe vor allem, von Heimat und vom Tod.

Der Tod begegnet mehrfach: als katastrophaler Tod des 11. September, aber auch als einsamer Tod des Man­nes, der unter einer Wäscheleine flach dahingestreckt liegt.

Die Liebe und die Sehnsucht danach sind das Hauptthema dieser Szenen. Zwischen Mann und Frau kommt es zu Begegnungen und "versuchten Nä­hen", häufiger aber zu Verfehlungen, zu Lossagungen, Zerwürfnissen. Eine Frau fortgeschrittenen Alters kehrt leitmotivisch auf mehreren Tafeln wie­der; sie ist Frau, Geliebte, Mutter, Kon­kurrentin und Verlassene: ein Sinnbild der Vergänglichkeit, der versäumten Gelegenheit und des Abschieds.

Unausweichlich ist der Tod, flüchtig sind die Begegnungen, beständig ist nur die Natur der Bergwelt, die auf Schnackenbergs Berchtesgardener Herkunft verweist. Doch fast immer geht es in den von Entsetzen, Wehmut und Sehnsucht, mitunter aber auch von Gelächter getragenen Szenen um instabile Gleichgewichte.

Schnackenbergs Bilder sind keine diskursiven Abhandlungen, es sind visuelle Gedichte. Die Themen greifen ineinander, die Eindrücke vermischen sich mit anderen Eindrücken, mit Erin­nerungen, Gefühlen, Ahnungen. Um diese Komplexität der Realitätsebe­nen sinnfällig zu machen und um zu zeigen, wie brüchig die Wahrnehmung und wie privat das Öffentliche und wie öffentlich das Private sind, führt Schnackenberg heterogenes Bildma­terial zusammen: ältere und neue Fo­tos von seiner Hand, Postkarten und immer wieder auch Fotos, die er der Tageszeitung entnimmt.

Ist die Form der Montage der adä­quate Ausdruck des Inhalts, so rührt auch die singuläre optische Brillanz von Schnackenbergs originärer Technik her. Er bearbeitet die Fotos in ei­nem aufwändigen digitalen Verfahren künstlerisch am Computer. In einem weiteren Arbeitsschritt überzieht er die ausgedruckten Bilder mit Wachs und geht noch weiter, indem er das mit farbigem Wachs überzogene Büt­tenpapier auf Leinwand appliziert und es erneut mit Wachs bearbeitet. Letztlich spielt das Medium, die künstlerische Gattung, keine entschei­dende Rolle, wenn es darum geht, Vorstellungen von "Bild heute" umzu­setzen. Denn egal ob Foto, digitales Bild, ob Zeichnung, Gemälde oder alles zusammen: Was zählt sind gute Bilder, Bilder, die in die Tiefe gehen, die aus Häutungen und Schichtungen entstehen und die so eine komplexe Weitsicht vermitteln. Genau dies tun Schnackenbergs "Kleine Geschich­ten".

Dr. Martin Seidel arbeitet als freier Kunsthistoriker und Publizist in Bonn.

Wisse das BildoderVon der Kunst als Aufforderung

"Wisse das Bild" ist der Titel des jüngsten Projektes von Lars Ulrich Schackenberg, vorgestellt 2013 im Kunstverein Linz am Rhein. Die Arbeit aus dem Jahr 2013 ist ein vielteiliger Zyklus, Mixed Media als Digitaldruck auf Acryl. Er ist dadurch strukturiert, dass alle Bilder zweimal zu sehen sind, einmal in der vom Künstler behandelten Version und zum zweiten Mal mit einer Spiegelung durch das Fenster, in der Fotografie von Thilo Beu. Schon diese Vorgabe verspricht die Aufforderung zu einem vertieften und vergleichenden Sehen. In der Tat ist der imperative Aufforderungscharakter dieser Bilder sehr stark und weit von demjenigen früherer Arbeiten des Künstlers entfernt.

Zusätzlich bindet der Künstler literarische Texte mit ein, die für das Lesen der Bilder von entscheidender Bedeutung sind. Die Arbeit ist sehr komplex. Das Gedicht von Friedrich Rückert (1788 – 1866): "Ich bin der Welt abhanden gekommen" reimt den Zusammenhang zwischen der Welt und dem Einzelnen, der mit ihr schon so viel Zeit verdorben hat; ein Hinweis auf das Denken des Künstlers, der seine eigene heutige Position in Bezug auf die Gesellschaft, sein Arbeitsfeld und vor allem in Bezug zu sich selbst formuliert. Er hat sich aus den soziopolitischen und utopischen Kämpfen herausgezogen. Er liest keine soziopolitischen Bücher mehr, keine Kunstgeschichten oder andere wissenschaftlichen Abhandlungen, er liest Science-Fiction - Romane auf der Suche nach einer anderen Welt, er liebt die Wahrheit der Märchen, weil diese vielleicht nicht die Realitäten verändern, aber sehr wohl mit ihren Wahrheiten in das Denken und Fühlen eines jeden Einzelnen eingreifen können. Auf diesem meditativen Weg sind die Arbeiten entstanden, die jetzt den Weg in die öffentliche Diskussion finden und dadurch nicht Anteilnahme, aber sehr wohl ein Mitdenken des Betrachters und sein sich selbst Befragen erfordern.

Der Zyklustitel steht in den 'Sonetten an Orpheus' von Rainer Maria Rilke (1875 – 1926), die der Dichter 1922 als Grabmal für Wera Ouckama Knoop in Chateau de Muzot im schweizerischen Rhônetal schrieb. Im neunten Sonett heißt es: "Mag auch die Spiegelung im Teich/ oft uns verschwimmen:/ Wisse das Bild." Mit dieser Vorgabe begibt sich Schnackenberg auf seine Bildspuren, die sich mit der Vergangenheit seiner früheren Bilder und Ausstellungen in Beziehung setzen. Dazu dient ihm ein unendlich großes Reservoir an Erinnerungen, sowohl eigenen, als auch in den Ordnern seiner Computer und  den Schätzen der Fernseharchive. Für jede persönliche Erinnerung findet er das passende Bild, das bearbeitet also hin zur richtigen Erinnerung manipuliert wird, um im Bild eine neue Verantwortung zu tragen, die sich als Bild gedanklich festgesetzt hat und nun durch die Spiegelung 'verundeutlicht' und leicht verzerrt wird und als noch mühsamer abzulesen eine neues dialogisches Leben beginnt, das im rationalen wie emotionalen Gespräch der beiden Partner die eigentlichen mentalen Aussagen eruiert.

Bei Rilke heißt es im textlichen Anschluss weiter: "Erst im Doppelbereich/ werden die Stimmen/ ewig und mild."  Dieser Doppelbereich ist immer für Künstler, die nicht einem starren Konzept folgen, ein darstellendes Ereignis, es ist die 'Parallelaktion', von der Robert Musil (1880 – 1942) in 'Der Mann ohne Eigenschaften' 1930 spricht. Eine Parallelaktion zum Leben, die Erkenntnisse und Änderungen im Sinne einer berechtigten Wegweisung ermöglichen soll. Es ist die Suche nach dem 'alter ego' als dem wichtigsten Gesprächspartner im Leben. Es bedeutet aber auch Rückzug zu sich selbst. Heute müssen wir lernen, die Realität von den virtuellen Welten zu unterscheiden; wir, die wir schon nicht mehr wissen, wer uns mehr beeinflusst, die Wirklichkeit oder doch schon die virtuellen Realitäten, die die jüngsten Generationen mit Sicherheit stärker beeinflussen als die älteren Erziehungsberechtigten, die eine Verpflichtung tragen, ihre Kinder für die Zukunft flexibel und mit Phantasie resistent zu machen.

Auch davon spricht der Zyklus, so dass der Künstler doch wieder aus seiner erhofften Märchenwelt ausbricht, um den nach vorne zeigenden Weg einzuschlagen, allerdings ohne jeden pädagogischen Zeigefinger. Das Spielerische im Umgang mit den Bildern bleibt immer erhalten. "You can leave your hat on", singt Joe Cocker in einem Fernsehclip, der ebenfalls der Spiegelung unterzogen wird. Das "Weltbild Rolling Stones"  zeigt an, wie das Fiebern nach der neuen Musik die Welt erobert hat und auch das Herz des damals jungen bildenden Künstlers.

Jede einzelne Arbeit mit ihrer Spiegelung zeigt das Denken des Künstlers auf, der zudem sehr frühe Skizzen aus seiner Hand des suchenden Künstlers in das neue Bildgeschehen integriert, wie bei "Weltbild Theater", bei dem ebenso wie in "Weltbild Vision" frühere Darstellungen mit den heutigen verwoben werden. Denn der Zyklus zeigt einen Werdegang auf, eine chronologische, wenn auch unlogische Wanderung durch das Leben. Doch der Rahmen ist so gesetzt, dass nie eine Illustration entstehen kann, sondern das freie Spiel erhalten bleibt und anregende Phantasie agieren kann. Das Eingangsbild mit dem Titel nach Rückerts erstem Satz " Ich bin der Welt abhanden gekommen" schlägt wie ein breites Panorama die Sicht auf den Gang durchs Leben auf. Links und rechts geht eine Rückenfigur mit über die Schultern gehängtem Mantel in das Bild hinein. Beide sind rechts und links von sich spiegelnder Architektur begrenzt, in der Mitte sehen wir Bildfelder mit Frauengesichtern. Darüber schiebt sich quer als Krönung des Bildes eine Welt aus Architektur und Natur, aus Gebautem und flüchtigen Wolkenformationen, alles metaphorische Angaben des Künstlers zur Darstellung unserer Welt, die auch als "Weltbild Extinktion" die Brüchigkeit von Frauenkopf und verwischten architektonischen Verhältnissen zeigen kann: Die Unsicherheit unser selbst gebauten Räume. Das erste Bild ist zudem die Wiederaufnahme und Veränderung einer Arbeit aus dem Jahr 2003, "Virtuelle Geschichten 4", Papier und Wachs auf Leinwand, fünfteilig, bei dem die einzelnen Motive viel realistischer herausgearbeitet sind (L.-U.Schnackenberg: Momente, Galerie Acht P! Pravato, Bonn, 2004, Kat. S.21). Mit den Weltbildern diskutiert der Künstler auch sein früheres Werk und seine Ausstellungen als work in progress. In diesem Katalog schreibe ich von einem "Realismus als kritische Methode" (S. 6 ). Martin Seidel erklärt: "Schnackenbergs Bilder sind keine diskursiven Abhandlungen, es sind visuelle Gedichte" (ebd., S. 26).

Die Verhältnisse verschieben sich. So verwundert es auch nicht, das in "Weltbild Theater" die Weltkarte nicht eine eurozentrische Darstellung ist, sondern in der Mittelachse Nord- und Südamerika zeigt, begleitet von obskuren, skurrilen luftmobilen Geräten, die etwas Tierisches an sich tragen und dennoch zum Reisen in die Welten der Phantasie ermuntern. Denn der Hintergrund aller Weltbilder ist eine Weltkarte, mehr oder weniger sichtbar, die wie aus einer Marmorierung nach vorne dringt, und durch die mögliche Zuordnung von Orten, Ländern, Kontinenten dem Betrachter viele zusätzliche Orientierungsoptionen bietet. Sie steht, (wisse das Bild!), für das Bild der Orte mit ihren jeweiligen Verhältnissen, womit der Künstler die jeweiligen unterschiedlichen Fragen des kulturellen Kontextes, der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen aufgreift.

Der Künstler, der Bildhauerei studiert und gelehrt hat, formt jetzt nicht mehr einzelne Werkstücke, sondern setzt seinen Weg, der vor gut anderthalb Jahrzehnten begonnen hat, in die medialen Abenteuer konsequent fort. Der Besucher fährt in eine wahrhaft vielschichtige Welt ein. Die Bilder sind in der Montagetechnik perfekt in einem langen, suchenden Prozess komponiert. Sie sind Arrangements, die den Betrachter unmittelbar in ihren Bann ziehen, zumal er sich in den spiegelnden Oberflächen der Bilder selbst sieht und somit unmittelbar einbezogen wird. Das Prinzip Spiegelung ist ein unendliches, eine Erkenntnis, die damit spielt, dass ein Bild Räume bestimmt und gleichzeitig von ihnen bestimmt wird, das ein Bild durch Spiegelungen zusätzliche Informationen aufnehmen kann, und zwar nicht nur durch Spiegelungen sondern auch durch die Gespräche, die es anleitet. Ein Bild ist nie fertig, aber nur dann von hoher Qualität, wenn es Dialoge initiieren kann, von denen der Künstler, bevor er das Bild an die Öffentlichkeit weitergibt, nichts wissen kann. Die Bilder von Schnackenberg werden dieser Aufladung durch diese außerbildlichen Vorgänge in hohem Maße gerecht. Das zeigt auf, dass der Aufforderungs-Charakter ein elementarer Bestandteil der Bilder ist, mit denen allerdings letztlich der Künstler sich selbst spiegelt.

Spiegelung ist immer auch die Erweiterung des Raumes und der Sicht. Sie erlaubt eine andere Distanzierung. In seinen philosophischen Beschäftigungen mit der Kunst in den Berliner Simmel-Vorlesungen denkt der Philosoph Dieter Henrich über diese Distanz nach: "Ist doch die Distanz, die sich kraft der ästhetischen Betrachtung aufbaut, aus einer Umbildung ebendieser Weltbeziehung zu erklären." ( D. Henrich, Versuch über Kunst und Leben, Edition Akzente, München 2001, S.211) und "Von der Verschiebung der Perspektive auf die Welt und in der Ambivalenz, die sich zwischen mehreren solchen Perspektiven ausbilden kann, ist immer zugleich das Subjekt als solches betroffen. Sein Ursprung ist ihm entzogen. Und eine Bewandtnis seines Lebens kann sich ihm nur durch eine bestimmte Besetzung des für es offenen Deutungsraumes erschließen." (ibd., S. 213). Die Methode des kritischen Realismus erschließt wie beim dialektischen Theater von Bertold Brecht (1898 – 1950) automatisch eine Distanz zum Vorgebrachten und das Mitdenken des Theaterbesuchers mit ein.

'Wisse das Bild' befindet sich in guter Gesellschaft und ist dennoch so neu und so anders, weil der Künstler in einem mentalen abstrahierenden Vorgang auf jeden illustrierenden Charakter seiner Bilderfindungen verzichtet. Dieses Streben nach virtuellen Lebensrändern zeigt "Delpasse-Effekt". Der Delpasse-Effekt benennt die neurologischen Untersuchungen an dem Unbegreiflichen, die Theorie des Seins an der Schwelle des Todes. Schnackenberg erzählt nicht von einer wissenschaftlichen Kartierung der Welt, von ihrer Bestandsaufnahme oder Vermessung, sondern von einer Welt, in der sich die Menschen in ihrer Endlichkeit die Realität mit ihren Träumen und Märchen teilen müssen.

Bonn, Juni 2014

Professor Dr. Dieter Ronte ist Direktor des Kunstmuseums Bonn.