Virtuelle Geschichten oder über die Momente
In der Literatur, z. B. bei Georg Christoph Lichtenberg, spielen Momente des Gedankens eine besondere Rolle. Seine Geistesblitze formulierte er in Aphorismen. In den mittelalterlichen Handwerksbetrieben spielten Momente dagegen keine Rolle. Der Künstler war gebunden, die Aufträge waren definiert, das Resultat war vorherzusehen. In langer Strategie wurden die Werke erstellt, damit sie, z. B. zum rituellen Gebrauch, für die Ewigkeit bestimmt sind. Doch die Geschichte hat anders entschieden, fast momentan hat sie das Tradierte zerstört und die eigenen neuen Überlegungen entgegengesetzt. In der bildenden Kunst spielt dieses Momentane, das Zufällige erst eine wirklich große Rolle seit dem 20. Jahrhundert. Jetzt gilt Spontaneität als ein besonderer Vorzug, weil der Künstler sich "unmittelbar und unverfälscht" (Brücke-Manifest 1904) ausdrücken kann. Er wird sozusagen nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt. George Mathieu spricht der Geschwindigkeit des ErstelIens eines Bildes eine besondere und ureigentliche Qualität zu. Künstler erleben im Tachismus und im deutschen Informel Sternstunden, wenn sie Arbeiten so erstellen können, dass sie, so sagt es dann auch der Titel, an einem bestimmten Datum in wenigen Minuten fertig wurden. Die Geschwindigkeit ist Trumpf, auch in der bildenden Kunst - auch bei den Rezipienten. Wenn Lars-Ulrich Schnackenberg Momente erzählt, die er virtuelle Geschichten nennt, dann nicht, weil seine Strategie auf die Geschwindigkeit des ErstelIens ausgerichtet ist. Ihn verbindet immer noch mit den Informellen die Darstellungslust, die aber nun im realistischen Sinne einen Abbildungscharakter findet, der von den Zufälligkeiten und den Momenten der Ereignisse berichtet. Schnackenberg stellt nicht etwas neu hinzu, im Sinne der Abstraktion als eine neue Realität, sondern er baut seine eigenen Bildwirklichkeiten, die er den Momenten als virtuelle Geschichten verantwortet. Es klingt paradox, wenn jetzt gesagt werden muss, dass diese virtuellen Geschichten, diese Momente wirkliche Erlebnisse sind. Schnackenberg berichtet von sic,h selbst in seinen~.
Bildern, von seinen Erfahrungen; von den Merkwürdigkeiten des Alltags; eben von jenen Momenten, die man intensiv lebt, aber auch jenen, die man visuell erfährt; über die Medien, über das Fernsehen, über die Freunde; aber auch in der Aktion mit sich selbst, mit der eigenen Familie, mit der sozialen und wirtschaftlichen Situation, mit dem Atelier. Ge- und erlebte Situationen werden zum Auslöser.
So verstehen sich auch die Titel zu den Darstellungen. Wenn man am Rhein im Biergarten sitzt und der Partner sagt: "Mein Bruder, meine Schwester lebt in Bagdad", exakt an dem Tag, an dem Bagdad bombardiert wird, so wird die Welt anders, merkwürdiger. Ist sie neu zu betrachten, verändert zu schildern. Entstehen diese Momente aus Zufälligkeiten, die von einer größeren Ordnung berichten und die für den Einzelnen objektive Erfahrungen werden, so wirken sie auf die Anderen oft nur zufällig und scheinbar. Schnackenberg berichtet von diesen eigenen, ihm selbst zugereisten Objektivitäten. Ob es nur noch die Momente sind, die Kindertotenlieder von Rückert in der Vertonung von Mahler, so ist er selbst der Welt abhanden gekommen, um als Künstler von dieser Welt zu zeugen. Er führt in der Arbeit "Ulis" zu sich selbst, er verarbeitet Porträts, er verfremdet, er nutzt die neuen Medien, den Computer, den Scanner und die Printer, um eine andere Bildwirklichkeit aufzuzeigen.
Hinter all diesen Handlungen steht ein großer und ernsthafter Versuch, sich selbst zu orten und zugleich zu verorten. Der Künstler ist permanent auf der Suche nach sich selbst, nicht auf der Suche nach den Anderen, nicht nach der Darstellung der Wünsche von anderen. Schnackenberg kann deshalb auch zwischen den Themen pendeln. Er hat sich keine Nische gesucht, denn er weiß, dass er kein Nischenheiliger ist. Er sucht auch nicht die Rückendeckung der Nische. Er ist ein Künstler, der wie die figura serpentinata eines Giovanni da Bologna sich sozial, frei und aufrecht in der Gesellschaft bewegt. Er versteckt nichts, er veröffentlicht; er verneint nicht, er zeigt auf; er lügt nicht, er sucht die Wahrheit. Dass diese einen starken bildnerischen Kontext hat und braucht, versteht sich durch das Metier des Künstlers.
Der Künstler erzählt gerne kleine Geschichten, in denen diese Momente wie Schlaglichter aufleuchten. Dieses literarische Element ist nicht textlich gebunden, also auf eine zu illustrierende Vorlage hin konzipiert, sondern bildnerisch stringent als optischer Aphorismus entwickelt. Die Lust zum Zyklus, zur Wiederholung erweitert das Sehen im Sinne einer sich permanent verändernden Darstellung, so als ob die Metamorphose des Gefundenen das eigentliche Ziel der Repräsentation ist.
So kann sich auch in schweren Zeiten (z.B. Soustrot und von Uslar als Bonner Kulturgeschichte) ein Symbiont entwickeln, Landschaften visuell werden, Gesichter durch ihre Details zu abstrakten Landschaften werden. Anonymitäten entstehen, die bis hin zum Porträt mit Hund von baconhafter Aussage sind.
Das Porträt des Menschen, sein heiliges Abbild, wird zunehmend codiert. Die Momente der eigenen Erfahrbarkeit werden geschildert, sie werden zu Geschichten oder großformatigen Darstellungen, in denen das Erzählbare wiederum sich steigert, weil der Künstler mit redundanten Images operiert. Der Betrachter, der neu vor dem Bild steht, wird durch Wiederholungen geführt. Nach dem ersten Aufnehmen kann er beim zweiten Sehen begreifen, und beim dritten Mal, wenn er dasselbe Abbild sieht, einen Bezug herstellen, der von dialogischer Natur ist.
Verkürzt können Schnackenbergs Geschichten und Momente, seine virtuellen Bilderzählungen wie folgt beschrieben werden: Virtuelle Objektivität ohne Mimesis trotz eines großen Realismus, der als kritische Methode verstanden wird.
Bonn, November 2003
Professor Dr. Dieter Ronte ist Direktor des Kunstmuseums Bonn.